E-paper - 24. April 2015
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Chemische Kampfstoffe haben ihren Schrecken nicht verloren

Friedensforscher Dr. Hans-Günter Brauch referierte beim Verein KZ-Gedenkstätte über „100 Jahre Giftgas als Kriegswaffe“

Neckarelz. (jbl) „Ein Einatmen, ein Schrei, ein Tod“, ein Satz, der einem die Gänsehaut auf den Rücken treibt. Schon vor Beginn des Vortrags von Dr. Hans Günter Brauch, Vorsitzender der „AG Friedensforschung und europäische Sicherheitspolitik (AFES-Press)“, hatte einer der Zuhörer in der KZ-Gedenkstätte Neckarelz damit die Einleitung treffend gefunden. Das Grauen der Giftgaseinsätze als Kriegswaffe, begonnen vor 100 Jahren, auf den Punkt gebracht.

Ein Thema, das auch heute noch in den Medien präsent ist, gerade vor dem aktuellen politischen Hintergrund der Instabilität der Nationen. Dorothee Roos, Vorsitzende des Vereins und Leiterin der KZ-Gedenkstätte, fand mit einigen Sätzen aus dem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Buch „Die Felder der Ehre“ von Jean Rouaud den gedanklichen Einstieg. Hierin beschreibt Rouaud ungeschminkt das Grauen in den Kriegsgräben, als sich der giftige Chlornebel darüber legte. „Vor genau 100 Jahren wurde das Kampfgas zum ersten Mal eingesetzt und hat bis heute nichts von seinem Schrecken verloren.“

Die Verbindung nach Neckarelz findet sich im Konzentrationslager Natz-weiler, das sehr eng mit der chemischen Wissenschaft verbunden war. Ein kurzer Einschub während des Vortrags erläuterte die Machenschaften von Professor Dr. August Hirt, Mitglied der NSDAP und der SS, und Professor Dr. Otto Bickenbach, Hochschullehrer in Heidelberg, später Mitglied der NSDAP und der SA. Mit Menschenversuchen an fast ausschließlich deutschen Häftlingen suchten sie nach schützenden Mitteln gegen Yperit, Senfgas, Lost und Phosgen.

„Die Gaskampfmittel sind ganz und gar nicht grausamer als die fliegenden Eisenteile; im Gegenteil, der Bruchteil der tödlichen Gaserkrankungen ist vergleichsweise kleiner, Verstümmelungen fehlen, und hinsichtlich der Nacherkrankungen [...] ist nichts bekannt.“ Mit diesem Satz hatte der Chemiker und spätere Nobelpreisträger Fritz Haber bei einem Vortrag im Reichswehrministerium den Wahnsinn in den Kriegsgräben angestoßen, der am 22. April 1915 in Ypern (Flandern) begann.

Brauch fasste das Grauen vor allem in Zahlen. 180 Tonnen Chlorgas wurden in fünf Minuten in die Gräben geblasen. Die Folgen waren immens. Die ersten Giftgaseinsätze brachten ca. 15 000 Vergiftete sowie 5000 Gastote auf den Seiten Frankreichs und den USA. 136 200 Tonnen chemische Kampfstoffe, von denen 113 000 Tonnen eingesetzt wurden, brachten im Ersten Weltkrieg etwa 1,3 Mio. Menschen den Tod. Im Zweiten Weltkrieg verfügte die Wehrmacht über 50 000 Tonnen chemischer Kampfstoffe, die aber nicht zum Einsatz kamen. Die Erinnerung an das Grauen des vorangegangenen Krieges war wohl noch zu nah, so der Referent. Aber nicht nur direkte Opfer sind bekannt. Noch in der dritten Generation nach dem Einsatz von „Agent Orange“ in Südostasien leiden Opfer an den Spätfolgen. Frauen von US-Soldaten, die damit Umgang hatten, brachten Kinder mit Fehlbildungen zur Welt.

Näher ging Dr. Brauch auf die Lebensläufe Habers und seiner Frau Clara ein, gab einen Überblick über die Entwicklung der Kampfstoffe. Eine zentrale Rolle spielte dabei in Deutschland die IG Farben. Hier wurden auf der Suche nach Pflanzenschutzmitteln die Kampfstoffe Tabun und Sarin entdeckt.

Wichtig war dem Referenten, vor allem die Rolle der Diplomatie darzulegen. Nur ihr sei es zu verdanken, dass bis heute weitestgehend, wenn auch noch nicht alle, chemischen und biologischen Kampfstoffe abgebaut wurden.

„Was passiert, wenn die noch im Umlauf befindlichen Stoffe in die falschen Hände, z. B. von ISIS, Al Shabab oder Boko Haram kommen?“ Eine Frage, die auch die Zuhörerinnen und Zuhörer bewegte. Wie real diese Gedanken sind, habe unter anderem der Anschlag 2013 in Syrien gezeigt.

Mosbacher Nachrichten vom Freitag, 24. April 2015, Seite 5 (3 Views)

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